„ESG-Omnibus“ – Kein Freifahrtschein für Nachhaltigkeit: ESG bleibt entscheidend für Wettbewerbsfähigkeit und Finanzierung

Mittwoch, 12. März 2025


Interview mit Anna-Lena Mayer, Leiterin Nachhaltigkeit & ESG der IR.on AG

Nachhaltigkeit ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für kapitalmarktorientierte Unternehmen. ESG (Environmental, Social, Governance)-Kriterien gewinnen zunehmend an Bedeutung, da Investoren, Kunden und auch Behörden verstärkt auf nachhaltiges Wirtschaften achten. Allerdings ist die dazugehörige ESG-Berichtspflicht mit einem deutlichen Mehr-Aufwand für Unternehmen verbunden. Dieser Aufwand soll nun durch das von der EU-Kommission vorgestellte „ESG-Omnibus-Paket“ erheblich reduziert werden. Wie die neue ESG-Regulierungen aussehen und was das gerade für kleine und mittelständische Unternehmen bedeutet, erläutert uns ESG-Expertin Anna-Lena Mayer von der Investor Relations- und ESG-Beratung IR.on AG.

Anleihen Finder: Sehr geehrte Frau Mayer, die EU hat Ende Februar ihren Vorschlag für ein ESG-Omnibus-Paket veröffentlicht, das die anstehende Pflicht zur Nachhaltigkeitsberichterstattung für viele mittelständische Unternehmen wieder aufheben soll und für die weiterhin berichtspflichtigen Unternehmen starke Erleichterungen ankündigt. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag der EU?

Anna-Lena Mayer: Wir haben in den letzten zwei Jahren zahlreiche Unternehmen auf die CSRD- und EU-Taxonomie-Berichtspflicht vorbereitet und ich muss sagen: Das Ausmaß der bisher angedachten Berichterstattung stellt mittelständische Unternehmen vor große Herausforderungen. Dadurch lag der Fokus der Unternehmen hauptsächlich auf der Erfüllung der Offenlegungspflichten und es waren wenig bis keine Kapazitäten verfügbar, um das Thema ESG strategisch und damit wirklich „nachhaltig“ anzugehen. Dabei reduziert die frühzeitige Entwicklung einer fundierten ESG-Strategie langfristig Kosten und Risiken. Außerdem stärkt sie die Glaubwürdigkeit und Marktposition des Unternehmens. Deshalb halte ich es grundsätzlich für richtig, die Berichtspflichten für kleinere Unternehmen zu reduzieren. Der jetzige Vorschlag nimmt jedoch eine Vielzahl von Unternehmen komplett von der Berichtspflicht aus, was aus unserer Sicht über das Ziel hinausschießt.

Anleihen Finder: Welche ESG-Regulierungen gelten dann also künftig für Unternehmen in Deutschland und Europa?

„Damit dürften in Deutschland statt bisher rund 15.000 Unternehmen nur noch ca. 3.000 Unternehmen unter die Berichtspflicht fallen“

Anna-Lena Mayer: Der Plan der EU sieht nun vor, dass künftig nur Unternehmen CSRD-berichtspflichtig sein sollen, die über 1.000 Mitarbeitende haben und entweder einen Umsatz von 50 Mio. Euro oder eine Bilanzsumme von 25 Mio. Euro überschreiten. Für die EU-Taxonomie-Berichterstattung liegt der Umsatzschwellenwert bei 450 Mio. Euro. Damit dürften in Deutschland statt bisher rund 15.000 Unternehmen nur noch ca. 3.000 Unternehmen unter die Berichtspflicht fallen. Außerdem ist eine Aufschiebung der Verpflichtung um zwei Jahre geplant, sodass die großen, nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen erst im Jahr 2028 über das Geschäftsjahr 2027 berichten müssten. Alle Unternehmen mit unter 1.000 Mitarbeitenden sollen künftig freiwillig den VSME-Standard für kleine und mittlere Unternehmen anwenden können. Der Vorteil dabei ist, dass die EU in ihrem Omnibus-Vorschlag vorsieht, dass diese Unternehmen mit dem VSME alle wichtigen ESG-Kennzahlen parat haben, die von Dritten abgefragt werden dürfen.

Anleihen Finder: Wie bewertet die IR.on AG die Bedeutung von Nachhaltigkeit abseits der Regulatorik, und welche Herausforderungen sehen Sie derzeit bei der Umsetzung von ESG in Unternehmen? Welche Aspekte sollten Unternehmen besonders beachten?

„Der Bedarf an ESG-Daten bleibt bestehen, nicht zuletzt auch für die Risikobewertung, um den Zugang zu nachhaltigen Finanzierungen zu sichern“

Anna-Lena Mayer: Trotz der Nachhaltigkeitsmüdigkeit, die bei vielen Unternehmen durch die überbordenden Offenlegungspflichten sowie das Hin und Her auf nationaler und EU-Ebene entstanden ist, hoffe ich, dass die freiwerdenden Ressourcen sinnvoll für Nachhaltigkeitsaktivitäten eingesetzt werden, denn der Klimawandel, Biodiversitätsverlust, menschenrechtliche und viele weitere ESG-Risiken bleiben Realität. Außerdem fordern Stakeholder wie Kunden, Investoren, Banken, Mitarbeitende und Bewerber:innen auch weiterhin, dass Unternehmen nachhaltig agieren und Informationen darüber bereitstellen. Der Bedarf an ESG-Daten bleibt also bestehen, nicht zuletzt auch für die Risikobewertung, um den Zugang zu nachhaltigen Finanzierungen zu sichern. Doch auch mit einem maßvollen Aufwand kann Nachhaltigkeit strategisch angegangen werden, um positive Auswirkungen für die Umwelt und Gesellschaft zu erzielen, die Risiken für das eigene Unternehmen zu reduzieren und Stakeholder-Anfragen beantworten zu können. Daher empfehlen wir allen kleinen und mittleren Unternehmen, Nachhaltigkeit in der Unternehmensstrategie zu verankern und die Berichterstattung gemäß des weniger umfangreichen VSME-Standards umzusetzen, um alle erforderlichen Informationen abzudecken.

„Wir empfehlen allen kleinen und mittleren Unternehmen, Nachhaltigkeit in der Unternehmensstrategie zu verankern und die Berichterstattung gemäß des weniger umfangreichen VSME-Standards umzusetzen“

Anleihen Finder: Welche spezifischen ESG-Dienstleistungen bietet die IR.on AG an? Wie helfen Sie Unternehmen, sich auf zukünftige ESG-Vorgaben (z. B. CSRD, EU-Taxonomie) vorzubereiten? Und wie unterstützen Sie generell bei der Integration der ESG-Thematik in die Geschäftsstrategie?

Anna-Lena Mayer: Hier gilt es zwischen den Berichtspflichten und freiwilligen Leistungen zu unterscheiden. Was die CSRD-Berichtspflicht angeht, unterstützen wir Unternehmen von der doppelten Wesentlichkeitsanalyse, über die Identifizierung von Datenlücken, den Aufbau des Datenmanagements und, sofern gewünscht, auch der Wahl eines geeigneten ESG-Tools bis zur Erstellung des prüfsicheren CSRD-Berichts. In Bezug auf die EU-Taxonomie helfen wir bei der Identifikation taxonomiefähiger Wirtschaftsaktivitäten, der Konformitätsprüfung und dem Reporting. Bei all diesen Schritten können die Unternehmen individuell entscheiden, wie stark sie unsere Unterstützung brauchen oder welche Schritte ggf. intern durchgeführt werden können. Vom Coaching- bis zum Full-Service-Ansatz bieten wir hier alles an.

Doch Nachhaltigkeit sollte auch über die Berichtspflicht hinaus eine Rolle im Tagesgeschäft der Unternehmen spielen. Deswegen empfehlen wir allen Unternehmen, eine eigene Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln und diese eng mit der Geschäftsstrategie zu verknüpfen. Hierbei können wir die Unternehmen unterstützen. Darüber hinaus bieten wir Hilfe bei Stakeholder-Befragungen, unterstützen beim Aufbau eines Nachhaltigkeitsmanagements und der Umsetzung freiwilliger Berichtsstandards wie VSME oder GRI, entwickeln Workshops und Schulungen für Unternehmen oder Aufsichtsräte zu spezifischen ESG-Themen, erstellen ESG-Guidelines und -Policies oder beraten auch bei der Wahl der passenden ESG-Rating-Agentur und begleiten den Rating-Prozess, bspw. bei EcoVadis-Ratings.

Anleihen Finder: Inwiefern unterscheiden sich Ihre ESG-Beratungsleistungen für mittelständische Unternehmen von denen für börsennotierte Konzerne?

Anna-Lena Mayer: Unsere Beratungsleistungen sind immer auf die Größe der Unternehmen abgestimmt. Wichtig ist hier aus unserer Sicht, mit Augenmaß vorzugehen und mittelständische Unternehmen nicht zu überfrachten. Natürlich haben börsennotierte Konzerne auch intern deutlich mehr personelle Ressourcen, um Nachhaltigkeitsthemen zu bearbeiten. In mittelständischen Unternehmen sind ein pragmatisches Vorgehen und der Wissensaufbau im Unternehmen daher umso wichtiger. Auch hier braucht es intern mindestens eine Ansprechperson für das Thema ESG. Zusätzlich müssen auch andere Abteilungen „abgeholt“ und eingebunden werden. Dabei sollte der Fokus auf die wirklich wesentlichen Themen gelegt und über diese transparent kommuniziert werden. Hier bietet sich als Einstieg auch die Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse, die für mittelständische Unternehmen aber nicht so umfangreich sein muss, wie für berichtspflichtige Unternehmen. Ein „Berichten um des Berichtens Willen“ ist aus meiner Sicht nicht zielführend und bringt das einzelne Unternehmen und uns als Gesellschaft nicht weiter.

Anleihen Finder: Welche Herausforderungen bestehen bei der Datenerhebung und -bewertung im ESG-Bereich?

„Wir empfehlen berichtspflichtigen Unternehmen, einen Probebericht anzufertigen, um noch bestehende Datenlücken zu identifizieren“

Anna-Lena Mayer: Neben den quantitativen Datenpunkten, die bereits durch ihren Umfang und den Aufwand der Erhebung eine Herausforderung für Unternehmen darstellen, sehen wir vor allem die qualitativen Datenpunkte, die gemäß CSRD berichtet werden müssen, als Herausforderung. Denn Managementsysteme, Guidelines und Policies müssen nicht nur beschrieben werden, sondern bei vielen Unternehmen auch erst noch für den Wirtschaftsprüfer belegbar umgesetzt werden. Hierfür muss entsprechend Zeit eingeplant werden. Wir empfehlen berichtspflichtigen Unternehmen deshalb auch, einen Probebericht anzufertigen, um noch bestehende Datenlücken zu identifizieren. Wenn der von der EU geplante Aufschub um zwei Jahre kommen sollte, wäre dafür auch noch ausreichend Zeit.

Anleihen Finder: Welche Maßnahmen können Unternehmen ergreifen, um den administrativen Mehraufwand durch ESG-Reporting effizient zu bewältigen? Wie können Sie den Unternehmen generell die Sorge vor dem Mehraufwand einer Nachhaltigkeitsberichterstattung nehmen?

„So viele wesentliche Themen wie nötig, aber so wenige wie möglich“

Anna-Lena Mayer: Der beste Weg, den Mehraufwand durch Nachhaltigkeitsberichterstattung möglichst gering zu halten, ist die gewissenhafte Durchführung der doppelten Wesentlichkeitsanalyse und Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie. Hier sollte folgendes Motto gelten: „So viele wesentliche Themen wie nötig, aber so wenige wie möglich.“ Unternehmen sollten sich fragen, welche Themen für sie wirklich von Bedeutung sind. Wir erleben hier häufig, dass Themen vor allem in ihrer finanziellen Wesentlichkeit zu hoch bewertet werden. Über jedes Thema, das am Ende als „wesentlich“ identifiziert wird, muss auch berichtet werden. Deshalb sollte dabei sehr gründlich gearbeitet und Zeit investiert werden, die man anschließend bei der Berichterstattung um ein Vielfaches einsparen kann. Wir bieten Unternehmen zur Vorbereitung auf die Wesentlichkeitsanalyse bspw. eintägige Workshops an, um das Vorgehen für alle verständlich zu machen, einige Beispiele durchzusprechen und auf Fallstricke hinzuweisen. Viele mittelständische Unternehmen können die Wesentlichkeitsanalyse daraufhin größtenteils selbst durchführen.

Anleihen Finder: Ein anderes Thema, das häufig im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit diskutiert wird: Wie beugen Sie „Greenwashing“ vor und wie unterstützen Sie Unternehmen bei authentischer ESG-Kommunikation?

Anna-Lena Mayer: Greenwashing ist ein Problem, das vor allem daraus resultiert, dass Nachhaltigkeit in der Vergangenheit häufig als Marketinginstrument genutzt wurde. Hier sehen wir in den letzten Jahren allerdings eine Veränderung. Zum einen ist die Gesellschaft deutlich sensibler und kritischer gegenüber „grünen Claims“ geworden, zum anderen versucht die EU auch durch verschiedene Gesetze das Greenwashing einzudämmen. Generell sollte man sich bei Nachhaltigkeitskennzahlen und -informationen an das halten, was auch im Finanzbereich gilt: Alle Aussagen sollten auf überprüfbaren Daten basieren, die transparent offengelegt werden können.

Anleihen Finder: Welche ESG-Trends sehen Sie aktuell als besonders einflussreich für Unternehmen? Wie könnte sich die ESG-Regulatorik in den nächsten Jahren weiterentwickeln?

„Nachhaltigkeitsberichterstattung auf ein sinnvolles Maß reduzieren, ohne Transparenz zu verwässern“

Anna-Lena Mayer: Was die Regulatorik angeht, wäre mein Wunsch, dass die Nachhaltigkeitsberichterstattung auf ein sinnvolles und für die Unternehmen machbares Maß reduziert wird, ohne den eigentlichen Sinn und Zweck, nämlich die Herstellung von Transparenz, zu verwässern. Klimarisiken, Dekarbonisierung, Biodiversität und Menschenrechte sind weitere wichtige Themen, mit denen sich Unternehmen auch in Zukunft auseinandersetzen müssen. Der Druck zur Erreichung von Netto-Null-Zielen nimmt zu. Unternehmen setzen verstärkt auf Dekarbonisierungs-Strategien, etwa durch den Einsatz erneuerbarer Energien, energieeffiziente Prozesse und nachhaltige Lieferketten. Auch die EU-Taxonomie-Verordnung soll dafür sorgen, dass Investitionen in nachhaltige Geschäftsmodelle gelenkt werden. Und auch von Stakeholdern wie Investoren und Finanzinstituten wird immer mehr Transparenz gefordert, da Nachhaltigkeitsratings und ESG-Kriterien Finanzierungsentscheidungen immer stärker beeinflussen werden.

Anleihen Finder: Besten Dank für die Antworten, Frau Mayer.

Anleihen Finder Redaktion

Titelfoto & Foto im Text: pixabay.com

Portraitfoto: Anna-Lena Mayer, IR.on AG

Hinweis: Dieses Interview erschien zunächst in der neuen Ausgabe des Anleihen Finder Newsletters (04-2025). Registrieren Sie sich hier für unseren KOSTENLOSER NEWSLETTER und seien Sie stets informiert.

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